Ein bewegendes Coaching

Umarmungen gehören zum Musikerleben. Und die fühlen sich höchst unterschiedlich an, vor allem für einen Menschen wie mich, der Abstand mindestens genauso zu schätzen weiß wie Nähe. Die Umarmung am Ende des gestrigen Arbeitstages in Irschenberg war gut und wohltuend: voller Herzlichkeit, Dankbarkeit und Wertschätzung – ohne Berechnung, aufgesetzte Äußerlichkeit und Anbiederung.

Dass man überhaupt über ein Coaching öffentlich schreiben darf, ist ja schon bemerkenswert. Denn meist wünschen die Kolleg_innen oder Ensembles, zu denen ich eingeladen werde (für mich auch durchaus verständlicherweise), dass solch ein Beratungsprozess nicht nach außen sichtbar wird. Für die Chorgemeinschaft Irschenberg war das kein Problem, auch auf deren eigener Facebookseite war davon zu lesen.

Nach meinem gestrigen Erleben wundert mich das noch weniger als vorher. Das ist ein Chor, der sich dezidiert anspruchsvoller Chormusik verschrieben hat, der aber gleichzeitig im positivsten Sinne eine Chor-Gemeinschaft ist, bei der das Gesellschaftliche wichtig, der Zusammenhalt spürbar und genauso wichtig wie das Singen ist. Wie so oft wird man von denen eingeladen, die eh schon eine ausgezeichnete Arbeit machen. Zu tun gibt es immer viel, aber man musste beim besten Willen nicht von Adam und Eva beginnen – viele Laienchöre gibt es nicht, mit denen man die Bach-Kantate „Brich dem Hungrigen dein Brot“ als Arbeitsschwerpunkt mit schönem Ergebnis nach wenigen Stunden erleben kann und die ohne mehrmalige Anläufe das c“‘ erreichen.

Getragen wird das alles von allen, geprägt wird es vom Chorleiter. Meine aufrichtige Hochachtung davor hat der Kollege sicher gespürt und so entstand den Tag über ein Geben und Nehmen, das man sich für manchen Hochschullehrprozess wünschen würde. Warum? Weil die Leute offen sind, weil sie bewegen wollen, weil sie das, was sie lieben, am Leben und lebendig erhalten wollen. Gern trage ich meinen kleinen Anteil dazu bei, unter den immer schwieriger werdenden Bedingungen die zu unterstützen, die in diesem Sinne eine ambitionierte Laienchorarbeit pflegen wollen! Was ich gestern erlebt habe, „ist mein Ding“.

Landesjugendchor Saar – eine Truppe, die Freude macht!

Fast 7 Stunden Bahnfahrt, davon die letzten beiden in einem völlig heruntergekühlten und dabei aber überfüllten Regionalzug. Meine Laune war nicht unbedingt auf einem Allzeithoch, als ich am Freitag in Ottweiler angekommen bin. Aber bereits die tolle Betreuung und herzliche Aufnahme durch die beiden Stimmbildner Angela Lösch und Michael Marz, die neben den Stimmen auch die Organisation des LJC Saar stemmen, hat mich schnell mit der Situation warm werden lassen. Zudem ist die Landesmusikakademie ein wirklich hervorragender Probenort – und die Heizung hat überall funktioniert.

Ja und dann kamen die jungen Leute. Für mich ein wesentliches Qualitätskriterium für die Nachhaltigkeit solcher Projektchöre: eine Altersspanne von 15 (!) bis 27 (bei Letzterem bin ich gerade unsicher…), so dass die Neuen von den Erfahrenen lernen dürfen und sich auf ihre späteren Aufgaben als Führungskräfte vorbereiten können. Spürbar ist der Zusammenhalt, eine positive, konstruktive Atmosphäre und eine bemerkenswerte Disziplin. Die Stimmen sind klug ausgewählt, wobei nicht ein elitärer Ausschlussgedanke zugrunde liegt sondern das Aufspüren von Talenten und Qualitäten, die sich dann auch noch entwickeln dürfen. So habe ich in meiner Zeit den Deutschen Jugendkammerchor aufzubauen versucht, so sind meiner Meinung nach Verbandsgelder in Jugendarbeit vertretbar zu investieren.

Mit der Programmauswahl war ich mir bis nach dem ersten Probenabend nicht sicher. Ich habe mir die Repertoireliste des Chores schicken lassen und versucht, Dinge auszuwählen, die in den vergangenen Jahren (mit einer absolut beeindruckenden Bandbreite) noch nicht oder nur wenig gesungen wurden: Hassler und Victoria aus der Alten Musik, Poulenc und als Kontrast Lauridsen aus der Neueren (gefälligen), Reger zum 100. Todesjahr. Und Distler. Zuerst wollte ich ein/zwei Sätze von ihm in ein Querschnittprogramm nehmen, dann hat sich aber die Idee verstärkt, den jungen Leuten die Weihnachtsgeschichte op. 10 näherzubringen. Mir war völlig bewusst, dass dies teils schwer zu singen ist, teils spröde im ersten Zugang klingt und vor allem Schwierigkeiten bei der eigenständigen Vorbereitung bringen würde. Mit dieser Vorbereitung bin ich aber hoch zufrieden – was mir da angeboten wird, ist aller Ehren wert. Und ich bin jetzt sehr froh, dass ich dieses Werk gewählt habe (auch wenn ich vielleicht nicht alle restlos bis zu meiner eigenen Begeisterung führen kann). Es passt wie ich gedacht wunderbar zu diesen jungen Stimmen, die eine große emotionale Ausdrucksbreite mitbringen. Und es passt in diese Zeit.

„Gewidmet dem Volk, das im finstern wandelt“

1933 komponiert, im Dezember desselben Jahres in Köln uraufgeführt, ein Werk eines sensiblen Komponisten und Musikers, der 1942 am druck des nationalsozialistischen Regimes zerbrochen ist und sich das Leben genommen hat. Braune Zeiten sind keine guten Zeiten für die Musik, haben aber immer auch besonders gute Musik hervorgebracht, denn jeder leistet auf die ihm mögliche Art Widerstand. Und meinem Empfinden nach sehr berührt waren die jungen Leute gestern auch, als ich von Distlers familiärer Situation in Nürnberg (Mutter weg nach Amerika, wieder zurück, ihn endgültig verstoßend, aufgewachsen bei den bitterarmen Großeltern, geliebt von einem Großvater, der sich Hugos musikalische Ausbildung vom hungrigen Mund abgespart hat) und von seinem steinigen musikalischen Werdegang erzählt habe.

Und jetzt machen wir noch ein kleines Experiment: falls irgendjemand aus dem LJC bis hierher gelesen hat und nachher unaufgefordert zum Flügel kommt und mir vor versammelter Mannschaft ihr7sein Lieblingslied vorsingt, bekommt sie/er ein Stück Schokolade (solange Vorrat reicht…)!