Es war keine gute Zeit für mich, als ich aufgerufen war, die Stücke zu benennen, die ich mit ca. 80 jungen Menschen im Kinderchoratelier des Eurotreff 2017 erarbeiten und aufführen wollte. Aus verschiedenen Gründen war ich im Februar/März sehr auf mich zurückgeworfen, habe viel überlegt, was ich mit meinem Leben eigentlich will – nicht nur mit dem privaten, sondern auch mit dem beruflichen. Nicht zum ersten Mal in meinem Leben war die Musik, das aktive Musik machen wohl das, was mich getröstet hat und mir Halt gab, was mich aufbrechen ließ. Angesprochen von Freunden darauf in dieser Zeit habe ich nicht nur einmal geantwortet: ja, das ist keine gute Zeit, aber meine Musik wird dadurch besser. Sie wird substanziell, im besten Falle existenziell – und das ist es, wofür ich als Musiker lebe.
Neben dieser höchst persönlichen Ebene habe ich in dieser Zeit über meine Tochter einige junge Geflüchtete kennengelernt, ich war sogar auf einen Geburtstag eingeladen und es war offensichtlich ein großes Ereignis und eine große Freude, dass ich als alter, deutscher, katholischer Professor in die Unterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge gekommen bin. An die vielen Selfies mit mir müdem, grauhaarigem und unrasierten Menschen (ich kam von einem Tageskurs nach 14 Stunden am späten Abend zurück nach Regensburg) denke ich noch heute mit großem Vergnügen. Noch mehr aber denke ich an eine Unterhaltung mit einem bereits nach einem knappen Jahr Anwesenheit hier ausgezeichnet Deutsch sprechenden jungen Mann, der mir von sich, von zuhause (Iran), von seiner Flucht und von seinem Leben bei uns erzählte. Es ist doch sehr anders, darüber nicht zu lesen oder in den Medien zu hören – mich hat das damals sehr bewegt.
Und ich habe es innerlich ins Verhältnis gesetzt zur Geschichte meines Schwiegervaters, der mit seiner Familie vor vielen Jahren nach Deutschland geflohen ist. Immer habe ich meinen eigenen Kindern gewünscht, dass sie genügend oft und vertraut mit ihm sprechen, um von diesem Leben zu erfahren – sowohl von Trauer und Wut als auch von Wehmut und Dankbarkeit. Man kann sich das nicht vorstellen, ohne wenigstens mit Leuten gesprochen zu haben, die solches erlebt haben.
Und all diese Erlebnisse und Gedanken wälzend sollte ich also die Stücke benennen, die unter dem Motto „Dreams“ in meinem Atelier gesungen werden sollten. Es ist kein einziger „Reißer“ dabei, es ist wahrlich kein in irgendeinem Sinne populäres Stück dabei, es ist ein Programm, das sehr gut zu mir passt, aber das wie so oft sicher schwer zugänglich sein würde. Dabei habe ich einfach überlegt: Was außer zartrosa Liebesgeschichten träumen junge Menschen in unserer Zeit in unserem Europa? Zwei Chöre aus Deutschland sind bei im Atelier und einer aus der Ukraine… und dann meine jungen geflüchteten Freunde… es ging nicht anders: es sollten Chorwerke sein, die möglichst viele verschiedene Dimensionen junger Träume beinhalten. Ein Kern kristallisierte sich heraus: jeder Mensch träumt davon, irgendwo daheim zu sein, irgendwo angenommen zu sein, Heimat zu haben oder Heimat zu finden. Das fand ich substanziell und existenziell genug.
Zoltan Kodaly: Mountain Nights Nr. 1
Kein Wort in irgendeiner Sprache, nur „m“ und ah“. Der Klang, der entsteht, ist ebenso ein Traum wie die stille Berglandschaft, die der Komponist vor Augen gehabt haben muss. Wir werden in diesem Stück also versuchen, vor dem geistigen Auge unserer Zuhörer eine Sehnsuchtslandschaft entstehen zu lassen. Ob dies dann unbedingt Berge sein müssen, scheint mir übrigens völlig gleichgültig zu sein . Hauptsache: eine jede und ein jeder träumt für ein paar Minuten seine Heimat – die reale oder die ersehnte.
György Ligeti: Idegen földön
Das sind vier sehr kurze Stücke, die von jemandem singen (gesungen werden), der seine Heimat verlassen musste und in der Fremde ist. Im ersten Stück beschreibt er seine Trauer. Im zweiten bittet er einen schwarzen Vogel, seinen Eltern und dem Liebsten einen Gruß zu bringen, der Mutter zu sagen, er sei krank – ein Motiv, das in vielen Kulturen in Volksliedern zu finden ist. Das dritte Stück fordert auf, nicht mehr zurückzuschauen, und das vierte schließlich beschreibt erstaunlich positiv eine sommerliche Szene, in die er sich sein Liebstes herbeiwünscht. Ein Wunder, dass ich an meine jungen Freunde denken musste? Ein Wunder, dass ich an die Kinder aus dem Ukrainischen Chor denken musste? Jedenfalls sehe ich immer wieder mit größtem Respekt die Fähigkeit gerade von Kindern, auch aus schier ausweglosen Situationen wieder einen Weg ins Licht zu suchen und zu finden. Ohne Träume geht das nicht.
Johannes Brahms: Ich hab die Nacht geträumet
Gerade an die Freunde aus der Ukraine, die ich nun in wenigen Stunden werde kennenlernen dürfen, habe ich auch bei diesem Stück gedacht. Zu traurig für Kinder? Zu schwermütig? Ich war schon immer der Meinung, dass Kinder in Chören eher zu selten als zu oft auch diese Seite ihrer Seelen zum Klingen bringen dürfen. In meiner nächsten Umgebung kenne ich Kinder, die Angst vorm Einschlafen hatten oder haben, weil sie Träume von Tod und Abschied durchleben müssen. Kein schöner Traum, der vom Liebsten, der am Ende im Grab ruht. Aber einer, der im Singen aufgearbeitet, verarbeitet werden kann. Schlimm wird es vor allem, wenn man über Schlimmes schweigt.
György Orban: Mundi renovatio
Ich habe gerade noch einmal nachgesehen: auch in der Ukraine gehört der größte Teil der Bevölkerung christlichen Kirchen an – orthodox, katholisch oder protestantisch. Bei uns in Deutschland ist das noch so, der kleinste Chor meines Ateliers aber ist z.B. die evangelische Kinder- und Jugendkantorei Wunsiedel und so kann man diesen Hintergrund noch voraussetzen. Aber eigentlich ist das auch völlig egal: Ich sehe den christlichen Osterhymnus „Mundi renovatio“ als allgemein gültigen Ausdruck des Traumes von der Erneuerung der Welt, will sagen: von einer neuen, friedlicheren und damit besseren Welt. Um Verständnis füreinander und Respekt voreinander zu lernen, sind Festivals wie dieses ja (auch) in der Welt. So wünsche ich mit dem letzten, flotten Stück der jungen Generation, dass sie es besser macht als wir, dass von ihr eine Erneuerung unserer Welt zum Guten hin ausgeht. Ich kenne so viele junge Menschen, die davon träumen und die so gerne ihren Traum leben würden!
Und dann ist mir am Schluss aufgefallen: Europäisches Chorfestival – drei ungarische Komponisten… Sehr gut! Mögen alle Länder in Europa, nicht nur Ungarn, sich in ihrer Musik, Literatur und Kunst immer wieder daran erinnern, dass die Sehnsucht nach Heimat kein nationaler, auch kein nur Europäischer sondern ein globaler Traum eines jeden Menschen ist! Menschlichkeit bedeutet, einander hierzu zu helfen. Humanismus, Religion oder andere Weltanschauungen als Triebfeder dazu – egal.
Rg – 5.9.2017
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