Joy wird wohl so 10 Jahre alt sein – ich hab sie nicht gefragt. Sie lächelt mich immer wieder an, still und offen, ich fühle mich willkommen. Das ist auch für mich ein gutes Gefühl, denn ich bin Gast, genauso wie 10 meiner Studierenden und zwei Kirchenmusikerkollegen – Gast in der katholischen Gemeinde St. Theodor und St. Elisabeth in Köln Vingst. Joy und die anderen rund 20 Kinder und Jugendlichen haben sicher nicht alle einen dramatisch schwierigen Hintergrund, einige von ihnen aber schon. Die Gemeinde liegt in einem sogenannten „sozialen Brennpunkt“ und dort arbeitet ein junger Kollege, der uns eingeladen hat, an seiner Wirkungsstätte eines meiner Blockseminare im Fach Kinderchorleitung an der HfMT Köln zu halten.

Freitagnachmittag treffen wir uns in der Hochschule, sprechen die Stücke, Übungen und auch Grundsätzliches durch. Von Probentechniken bis zur Körpersprache reichen die Themen, die Studierenden machen engagiert mit; freilich ist das trotzdem der teilweise trockene „Schwarzbrot-Teil“ dieses Unterrichts-Formates.

Am Samstag geht es dann zu einem von uns gestalteten Probentag in eine Gemeinde (oder Schule) und nacheinander arbeiten Studierende praktisch mit den Gruppen, ich werde entweder direkt gefragt oder auch um Hilfe gebeten, interveniere manchmal, wenn ich es für nötig oder besonders reizvoll halte. Reizvoll in dem Sinn, dass sich Situationen ergeben, wo man mit etwas Erfahrung „riecht“, dass sehr viel mehr drin ist, dass sich Chancen für einen echten Entwicklungsschub bieten. Heute ist das phantastisch gelaufen – auch Studierende und Gäste haben die Kinder und Jugendlichen bewundert, wie sie von 10:00 bis 16:00 Uhr (freilich mit Pausen) nicht nur durchgehalten haben, sondern ihre Leistungen stetig weiter verbessern konnten. Welch tolle Arbeit der Kollege vor Ort macht, spiegelt sich dabei vor allem in der angenehm entspannten aber konzentrierten Atmosphäre wieder, in dem höchst engagierten und technisch guten Singen, besonders im feinen Umgang der Jugendlichen mit den Kleineren.

Immer wieder gibt es diese Momente, die mich in meiner Auffassung bestätigen: wenn man sich an den Leistungen der Kinder freuen kann, wenn sie spüren, dass man um ihretwillen und nicht (vorrangig) aus eigenem Streben fordert und auch zweimal, dreimal nicht nachgibt, dann ziehen sie mit – dann klingt zum Beispiel ein vierstimmiger Chorsatz nicht nur ordentlich sondern bleibt plötzlich komplett in sauberer Intonation. Diese technischen Dinge gehen heute auch bemerkenswert oft in eine tiefere Aussageebene über; wir haben viele Studierende, die das Herz auf dem richtigen Fleck haben, ihr Hirn benutzen und ihren zukünftigen Beruf lieben. Höchst bewegend verabschieden uns die jungen Leute mit einem „Jesus, berühre mich“, das keinen im Raum unberührt lässt.

Dann kommt’s aber, eigentlich zufällig, noch wesentlich intensiver und ich werde die folgende Dreiviertelstunde nicht so schnell, nein, wohl nie vergessen. Wir bekommen eine Führung durch die Kleiderkammern für Kinder und Erwachsene, durch die von der Tafel bestückte Essensausgabe, durch die Werkstätten – alles direkt unter der Kirche, quasi symbolisch als Fundament dessen, was oben drüber in der Liturgie passiert. Zwar ist dort Samstagnachmittag Ruhe und die ausschließlich Ehrenamtlichen, die dort kirchliche Sozialarbeit für jedermann ohne Ansehen von Person, Religion oder sonstigem leisten, muss man sich vorstellen. Aber nicht nur in einem Kirchenraum kann man den Geist wehen spüren – der weht auch hier, beeindruckend.

Zufällig treffen wir dann in der Kirche selber den Pastor der Gemeinde mit einer Gruppe von Pax Christi. Der Kollege spielt ein kleines Beispiel aus seiner Arbeit, verbindet Zitate aus Filmmusik, klassischer Musik, geistlicher Musik mit Kinder-Kirchenliedern und erklärt, wie es so an seine Klientel heranzukommen versucht. Und der Pfarrer spricht knapp, klar und absolut überzeugend von der dienenden Kirche, die aus der Perspektive des Schuhputzers zu arbeiten hat, von Organisten, die – so sie nicht für und mit der Gemeinde spielen – des Teufels sind, von einer Welt, die Kirche nur dann braucht, wenn diese den Menschen in ihr dient. Und davon, wie wichtig die Musik ist und dass das Evangelium laut Papst „zur Not auch mit Worten verkündet“ werden solle. Zur Not wohlgemerkt!

Und nun sitze ich im Zug und singe innerlich immer wieder das Lied, das ich eh liebe und das ich nun zeitlebens mit diesem so erfüllten und erfüllenden, aber auch sehr nachdenklich machenden Tag verbinden werde. Es passt zu diesem Stadtteil von Köln, wo viele Menschen einfach keine Chance haben, und dazu, dass genau das seit Jahren ein ungelöstes Problem einer der reichsten Nationen der Erde geblieben ist – es passt zu dem, was Millionen heute vertrieben und auf der Flucht erfahren müssen – es passt zu dem Bild von Kirche, das ich teile und das mich bestärkt, mit meiner Musik das Richtige zu tun und einen kleinen Beitrag zu leisten. Der Pastor erzählt von einem muslimischen Mädchen, das die Erstkommunionvorbereitung mitmacht: „Natürlich will die nicht katholisch werden und das braucht sie auch nicht! Aber sie hat mir am Beichtstuhl gesagt, dass sie etwas lernen will – sie will einfach auch nur etwas Schönes erleben.“

Ihr Mächtigen, ich will nicht singen eurem tauben Ohr!

Zions Lied hab ich begraben in meinen Wunden groß.

Ich halte meine Augen offen, liegt die Stadt auch fern.

In die Hand hat Gott versprochen: er führt uns endlich heim!

In deinen Toren werd‘ ich stehen, du freie Stadt Jerusalem!

In deinen Toren kann ich atmen, erwacht mein Lied!

 

Die Mauern sind aus schweren Steinen, Kerker, die gesprengt,

von den Grenzen, von den Gräbern aus der Last der Welt.

Die Tore sind aus reinen Perlen, Tränen, die gezählt.

Gott wusch sie aus unsern Augen, dass wir fröhlich sind.

In deinen Toren werd‘ ich stehen…

 

Die Brunnen wie sie überfließen in den Straßen aus Gold!

Durst und Staub der langen Reise – wer denkt daran zurück?

Noch klarer als die Sonnenstrahlen ist Gottes Angesicht.

Seine Hütte bei den Menschen mitten unter uns.

In deinen Toren…

Text: Christine Heuser

Und wenn sich jemand fragt, woher er die Melodie kennt… „Schindlers Liste“, gespielt von Ithzak Perlmann…