Es gibt Vorhaben, auf die man dann doch in anderer Intensität hinlebt, als das üblicherweise nötig und möglich ist. Leipzig und das dortige Symposium für Kinder- und Jugendstimme ist für mich solch ein Pflaster – seit nunmehr 14 Jahren. Ein großes, fachkundiges und offenes, aber auch ein im besten Sinne anspruchsvolles Publikum – hochkarätige Kolleginnen und Kollegen, die mit ihren eigenen Beiträgen Maßstäbe setzen und diese sicher beim Zuhören auch anlegen. Und – hier auf meiner Homepage darf ich das so sagen – ein mittlerweile guter Freund und toller Kollege, der zu den Besten gehört, die ich kenne: Prof. Dr. Michael Fuchs, top auf seinem Gebiet und vielen angrenzenden, begnadeter Redner und Moderator. Ja, auch weil ich es dieser Freundschaft schuldig bin, will ich hier in Leipzig immer das Beste geben.

Es war der „Hauptvortrag: Schwerpunkt Sing- und Sängerstimme“ mit dem Titel

„Sing doch, was du willst!“ –

Vorder-, hinter- und tiefgründige Aspekte der Vorbildwirkung von Pädagogen-Sing-Stimmen

Leipzig zwingt also zur Konzentration, zum Kern. Und deshalb hat mich von der ersten Konzeptionssitzung mit dem vagen Gedanken des Vortragthemas bis hin zur endgültigen Ausarbeitung in den letzten Tagen wieder einmal sehr die Frage beschäftigt:

Was will ich eigentlich mit dem, was ich da tue? Singen mit Kindern, Singen mit Jugendlichen, Singen mit Erwachsenen…

Und die Frage wird  für mich mit den Jahren immer intensiver und reicht immer weiter:

Wird die Welt durch das, was ich da tue, auch nur eine Spur besser?

Den kompletten Vortrag gibt es nächstes Jahr schriftlich im Dokumentationsband und demnächst als Video auf Youtube. Hier ein paar Kerngedanken, die es vielleicht wert sind, noch frisch geteilt zu werden.

Im Vordergrund: technische Aspekte

Ganz gleich, ob man Kolleginnen und Kollegen oder die eigenen Chorkinder fragt: das Erste, was allen zur Frage einfällt, was beim Vorsingen wichtig sei, sind technische Aspekte, vor allem das, was man richtig machen muss oder noch häufiger so formuliert nicht falsch machen darf.

Keine falschen Töne singen, alles richtigmachen – das scheint bei Alt und Jung in Deutschland doch immer noch die wichtigste Kategorie zu sein. Gut – das ist sie auch. Denn für die Beweggründe, aus denen heraus Sie sich dies Symposium hier antun, spielt das als Basis einfach eine ungemein wichtige Rolle. Und ich habe in meiner Lehrtätigkeit und bei Coachings offen gestanden Jahre gebraucht, bis ich diese simple Wahrheit nicht stillschweigend vorausgesetzt habe, sondern bis hin zu banalen, technischen Fehlern immer wieder angesprochen habe. Beim Notentext akzeptiert das noch jede und jeder, aber mal ganz ehrlich: wer hier im Saal übt jedes Lied, jede Strophe, jede Stimme der zu erarbeitenden Stücke so lange, bis er damit technisch einwandfrei zufrieden ist?  Aber gehen wir weiter: an welcher Hochschule werden einzustudierende Chor- oder Kinderchorpartien unter gesangspädagogischer Anleitung vorbereitet – Stichwort fächerübergreifender Unterricht?

Eines der Mädchen hat gesagt, der Chorleiter müsse auch Bewegungen „dazu machen“. Recht hat sie und erweitert damit den Anspruch technisch richtigen Vorsingens um das weite Feld stimmbildnerisch hilfreicher Gesten, Mimik und auch grob- wie feinmotorischer Bewegungen. Diesen Aspekt habe ich am gesungenen Beispiel „Der Banana-Senor“ (Singspatz, tvd-Verlag) zu verdeutlichen versucht, habe versucht, ihn spürbar und erlebbar werden zu lassen.

Es ließen sich neben diesem Beispiel hunderte Punkte benennen, auf die beim Vorsingen technisch zu achten ist. Ebenso gibt es wie die gezeigten Gesten und Bewegungen ein Vielfaches davon als technische Herangehensweisen und Hilfen. Eines haben alle gemeinsam: man muss sie – leider! – üben und gezielt einsetzen. Mir ist in meinem Chorleitungsbuch „Chorleitfaden“ (ConBrio, Band 1, Regensburg 2008) im Stimmbildungsteil eine kleine Stelle besonders wichtig, die das in Schritten beschreibt:

  • Kennenlernen
  • Selbst Ausprobieren
  • Verinnerlichen
  • Im Kontext zur Problemstellung erfassen
  • Vermittlung erarbeiten

Im Hintergrund I: wie wirke ich?

Gehen wir einen Schritt weiter.

Meine Situation hier als Vortragender lässt sich in vielen Punkten mit der Vorsingsituation vergleichen. Ich versuche, alles richtig zu machen – heißt: hier keinen Nonsens zu erzählen. Aber kein Mensch wird einzig und alleine diese Ebene erleben. Was freies Vortragen ebenso zu einer Herausforderung macht wie jedes Vorsingen (vor Kindern vielleicht noch am wenigsten…), ist die niemals auszublendende Ebene der Frage „Wie wirke ich auf mein Gegenüber?“. Viele Psychologen und Philosophen bezeichnen den Wunsch nach Anerkennung als das vielleicht größte Bedürfnis des Menschen. Ob dies nun im Sinne der Frage „Wie wirke ich?“ auf der bewussten Ebene abläuft oder ob es im Unterbewussten mitschwingt: völlig davon befreien kann sich wohl kaum jemand. Und Musiker, zumal singende Musiker sind zudem selten völlig uneitle Wesen.

Für unsere Themenstellung „Sing doch, was du willst!“ ist das Anerkennen dieser Tatsache von eminenter Bedeutung. Denn da sitzt einem jemand auf der Schulter und bewertet permanent dieses eigene Vorsingen. Die Begründung für diese Bewertungen zieht dieser „jemand“ aus den tatsächlichen oder gefühlten oder eingebildeten Reaktionen des Gegenübers: des Schülers, des Patienten, des Chores.

Und jetzt wird es interessant!

Man muss sich immer wieder fragen, welche Macht man diesem „jemand“ zugestehen will. Eine Selbstbeobachtung im technischen Sinne ist gerade in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sehr wichtig, denn nur so kann Verbesserung geschehen. Aber wenn ich abhängig werde davon, wie ich meine zu wirken, werde ich in meinem Vorsingen nicht mehr das Transportieren, was ich will, sondern das, was ich meine, dass es andere hören und sehen wollen.

Dies bedeutet für mich hier und jetzt: wenn ich den Bananasenor vorsinge und mich dabei auf die Technik konzentriere, weiß ich, dass ich es eigentlich kann und dass deshalb die Wirkung auch einigermaßen positiv ausfallen dürfte, habe ich eine Chance auf Gelingen. Wenn ich aber an die Kollegin denke, die da unten sitzt, vor einiger Zeit von mir in einer Jury nicht so gut wie erwartet bewertet wurde und – meiner Meinung nach – noch immer Groll gegen mich hegen muss, und wenn ich deshalb Angst vor dem eigenen Scheitern habe, weil ich mit Häme nicht umgehen kann, dann stehen die Weichen eher in Richtung Scheitern.

Das heißt: wie wir uns und unsere Wirkung auf unser Gegenüber in der Vokalpädagogik sehen, hören und empfinden, hat dies eine beinahe als self-fullfiling prophecy zu bezeichnende Kraft.

Und will ich nicht nur selbst mein Singen gelingen lassen, sondern auch noch meine Schüler dazu anleiten und ihnen dazu verhelfen, dann muss in meinem Vorsingen die Botschaft mitlaufen: Ich traue dir das zu, du wirst das schaffen, wir probieren es gemeinsam, wir spielen damit (wie Kinder eben spielen), bis es gelingt. Die technische Hürde wird Ansporn und ist nicht mehr Risikofaktor für ein potenzielles Scheitern.

Rückgriff auf gestern: Dabei ist die Pädagogen-Stimme im musikalischen Kontext ja nicht nur als Singstimme im Einsatz, sondern auch als Sprechstimme. Was transportiert sie dabei idealerweise:

  • Lob
  • Zugewandtheit („Hey, Alter, was geht?“)
  • Freude über Gelingendes
  • Souveränität
  • Persönlichen Stil

Im Hintergrund II: inhaltliche Aspekte bzw. musikalischer Ausdruck

Dienstag 22.2.2016, Schulturnhalle Deuerling, Übergabe der „Friedenstaube“. (Siehe ein anderer Eintrag in diesem Blog)

Gesungenes Beispiel: Günther Kretzschmar „Rommbommbomm“ (Zauberklänge, Band 4, Oldenbourgverlag)

Der Aspekt des musikalisch intensivierten Ausdrucks beeinflusst nachgewiesenermaßen auch umgekehrt wieder die Technik positiv. Gerade bei Kindern und Jugendlichen lassen sich manchmal konkrete technische Probleme durch einen starken inhaltlichen Bezug besser bearbeiten als durch rein mechanisch-technische Maßnahmen.

Im Beispiellied gibt es dazu viele Bezüge:

  • Der Trommelwirbel zu Beginn – lautmalerisch, Zungen-R, Intensität und Flexibilisierung
  • Melodisch-fragende Gesten – prosodisch der Sprache folgende, sinnfällige Melodiebildung
  • Weittragende Brückenbögen – entsprechende Atembögen
  • Die erwartungsvolle Stille und Spannung, ob die hingestreckte Hand genommen wird – Exaktheit, Atemstau, Lösen der Impulsatmung

Will ich musikalisch-inhaltlichen Ausdruck stimmbildnerisch nutzbar machen, muss ich die Wechselwirkungen im Positiven wie auch die Gefahren kennen. (Das Beispiel „Signor Abbate“ von Beethoven musste aus Zeitgründen hier entfallen).

In der Tiefe I: wie mein Vorsingen mein Gegenüber berührt

Vor Jahren habe ich ihnen hier im Video meine Tochter gezeigt. Anna hat „Heißa Kathreinerle“ gesungen und uns die kindlichen Stimmregister vorgeführt. Heute ist mein Sohn Paul dran; nein, nicht im Video, aber mit einem ersten kleinen Satz, den er gesprochen hat: „Wei du wieviel!“

Beispiel: „Weißt du wieviel Sternlein stehen“ – gesungen vom Plenum mit dem Auftrag, ganz bei sich zu sein und in Gedanken für ein kleines, vertrautes, geliebtes Kind zu singen.

Bezug zur Lebenswirklichkeit der Kinder… den muss ich kennen und sie definiert sich nicht vom Erwachsenen aus. Flucht und Vertreibung sind Themen, die Kindern heute nicht verborgen bleiben können und auch nicht verborgen bleiben sollen, Jugendlichen schon gar nicht.

Beispiel: „Sometimes I feel“ (Spiritual)

Es transportiert sich, woran ich beim Vorsingen denke. Dabei muss nicht vordergründig genau das gleiche Bild im Kopf meiner Chorkinder oder meines Schülers entstehen, es geht um die tieferen Ebenen, auch wieder im Positiven wie im Negativen:

  • Selbstdarstellung – Unsicherheit
  • Trauer – Zuversicht
  • Beziehungsunfähigkeit – Empathie

Als Bonus dieses Vortrags gab es Folie 2 – einen Exkurs in die Werbebranche!

Die sieben Ja-Sensoren, die man berühren sollte, um das Gegenüber zu dem, was man anzubieten hat, „ja“ sagen zu lassen:

  • Freundschaft
  • Kompetenz
  • Begründung
  • „Social Proof“
  • Hoffnung/Furcht
  • Großzügigkeit
  • Kontrast

In der Tiefe II: … und damit die Welt verändert

Das erste Mal seit vielen Jahren habe ich Angst. Angst vor all dem, was bei uns und aber besonders anderswo auf der Welt passiert. Dabei ist eine „Flüchtlingskrise“ für mich immer noch die jeweils persönliche, existenzielle Krise, die jeder Flüchtende durchlebt und durchleidet – das auf uns bezogene Wort „Flüchtlingskrise“ und dass wir eine hätten, empfinde ich als echten Favoriten auf das Unwort des Jahres. Aber natürlich ist eine tiefgreifende, gesellschaftliche Krise der Spaltung längst in vollem Gange. Zu Definitionen und Wertungen will ich mich hier nicht versteigen, das geschieht täglich viel zu oft und viel zu viel. Aber für uns muss doch schon auch die Frage sein: was hat unsere Arbeit, unser Singen mit Kindern und Jugendlichen in solchen Zeiten für einen Sinn, welche Berechtigung hat es? Was will ich?

Unsere größten Probleme sind weder Flüchtlinge noch Bankenkrisen, die größten Probleme liegen tiefer. Eine jahrzehntelang gewachsene Kälte und Entpersonalisierung unserer Gesellschaft halte ich für die eine Seite der braunen Medaille – geschwächte oder schwache Persönlichkeiten halte ich für die andere. Wer schwach ist, schreit – wer schwach ist schlägt. Es sind nicht die starken, in sich gefestigten, in sich ruhenden Menschen, die anderen das Dach über dem Kopf anzünden.

Mit einigen von ihnen bin ich auf Facebook befreundet und manche werden sich wundern, dass ich mich ab und zu auch politisch deutlich äußere. Wir müssen den Mund aufmachen, vielleicht sogar weniger gegen etwas als für etwas. Wir müssen den Mund aufmachen und dann kann es auf einmal heißen:

Sing doch, was du willst!“

 

Zusammenfassung

Es sollte einen Dreiklang geben, der die Vorbildwirkung der Pädagogen-Sing-Stimme trägt und prägt:

  • technischer Vordergrund
  • kommunikationstechnischer und psychologischer Hintergrund
  • Menschen- und lebensbejahender Tiefgrund