Die Konzert-, Workshop- und Begegnungsreise meines Kammerchores vox animata steht unmittelbar bevor. Es ist wie so oft: da gibt es Organisatorisches zu klären, Finanzielles und nicht selten auch Zwischenmenschliches; „Vorbereitung“ besteht bei solchen Projekten oft in Email-Schreiben und Listen-Führen.
Man lässt sich davon unterschiedlich stark in Beschlag nehmen und mir gelingt es in letzter Zeit immer besser, das alles beiseite zu legen und mich ganz der Musik und deren Hintergründen zu widmen. Ein schönes Beispiel hierfür habe ich in der letzten Stunde erlebt und ich teile es gerne, auf dass es vielleicht auch andere als Impuls nehmen, sich den Kern künstlerischen und musikpädagogischen Tuns nicht wegnehmen zu lassen.
Gemeinsam mit dem Kinderchor „Vivat musica“ meiner phantastischen Kollegin Natalia Pavliuchuk werden unsere Damen den kleinen Zyklus „Idegen földön“ von György Ligeti singen. „In der Fremde“ lautet der deutsche Titel und einer ungarischen Freundin nach sind die deutschen Textübertragungen (übrigens auch singbar) von Hilger Schallehn sehr nahe am ungarischen Originaltext. Wir werden das Stück in Englisch singen; auch hier bietet die Schott-Ausgabe eine sehr gute, poetisch nachvollziehbare Variante an.
Eintauchen heißt zunächst natürlich Spielen und Singen. Sich etwas Zeit zu nehmen, um nicht nur notdürftig alles zu erfassen und Fehler zu vermeiden, sondern um Schönheiten zu entdecken und Interpretationsspielräume auszuloten, dafür nehme zumindest ich mir leider nicht immer die Zeit, die das braucht. Hier geht es „nur“ um einen dreistimmigen Frauenchorsatz, partiturspieltechnisch also keine echte Herausforderung – dennoch liebe ich es, solch kleine Dinge dann wirklich zum Klingen zu bringen und sie ganz zu erfassen.
Dann ist da der Text. Hier sind die Vorlagen von Bálint Balassa und aus der ungarischen sowie slowakischen Volksdichtung und es sind sehr kurze, bis auf das letzte sehr melancholische Texte, die allesamt beschreiben, wie sich jemand fühlt, der fern seiner Heimat lebt. Was könnte zeitgemäßer sein im Jahre 2018? Millionen Menschen leben so, fühlen so, trauern so und sehnen sich so. Was könnte pädagogisch besser geeignet sein, um Mitmenschlichkeit und Humanismus diesen über die ganze Welt Fliehenden gegenüber zu bewirken, als diese kleinen Stücke mit jungen Menschen zu singen? Es ist wunderschöne Musik, ja. Aber sie bildet nicht zuletzt die Herzen und schafft Empathie. Bewusst schreibe ich diese Zeilen in den Tagen der unsäglichen Krawalle und Hetzjagden von Chemnitz.
Schließlich habe ich mir dann wieder einmal die Zeit genommen, kurz in Ligetis Biographie hineinzulesen. Die vier Mini-Chöre sind ein absolutes Frühwerk von 1945 (1946). Im Jahr 1945 wurden im März Ligetis jüngerer Bruder in Mauthausen und im April sein Vater in Bergen-Belsen ermordet. Gläubige Juden waren sie nicht, aber Juden waren sie halt – der Vater sogar hochdekorierter Held des 1. Weltkriegs. Ob bei Bach, Mozart oder eben Ligeti: die Musik, die ein Mensch komponiert oder musiziert, ist nie losgelöst von seinen Lebensumständen zu erfassen. Und das werde ich (hoffentlich ohne erhobenen Zeigefinger) meinen Chorleuten nächste Woche versuchen, nahezubringen. Das ist die Art, wie ich arbeiten möchte.
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